Ernst Helmuth Flammer
Zum Werkverzeichnis


 

wurde 1949 in Heilbronn geboren, studierte Mathematik und Physik und wandte sich danach zunächst der Musikwissenschaft mit den Nebenfächern Kunstgeschichte und Philosophie zu .
1973 - 79 studierte er Kontrapunkt und Musiktheorie bei Peter Förtig und von 1972 - 1980 Musikwissenschaft bei Hans Heinrich Eggebrecht in Freiburg, wo er auch promovierte. Seit 1976 studierte er zudem Komposition bei Klaus Huber und Brian Ferneyhough, zwischenzeitlich auch bei Paul-Heinz Dittrich.

Seit 1977 publizierte er in mehreren Fachzeitschriften zu Themen der Neuen Musik und ästhetischen Fragestellungen. 1980-81 hatte er einen Lehrauftrag für Musiktheorie an der Staatlichen Hochschule für Musik Trossingen, 1982 bis 1985 einen an der Universität Freiburg.

Seit 1980 lebt Flammer als freischaffender Komponist in Freiburg. Seit 1985 übt er eine umfangreiche Lehrtätigkeit als Gastdozent u.a. en der University of Newcastle, in Dresden, Gera, Odessa, Paris, St. Petersburg, am Mozarteum Salzburg und regelmäßig bei den Darmstädter Ferienkursen, aus. Hinzu kommen regelmäßige Gastvorträge und Rundfunksendungen. 1985-87 hatte er einen Beratervertrag mit der Stadt Mönchengladbach als künstlerischer Leiter des dortigen Festivals "Ensemblia".

1985-90 betreute er das von ihm mit aufgebaute "ensemble recherche freiburg", welches sich vorwiegend, der Interpretation Neuer Musik widmet.

Ernst Helmuth Flammer erhielt zahlreiche Preise und Auszeichnungen aus Baden-Baden, Dresden, Freiburg, Hannover, Paris, Parma, Rom und Stuttgart.
Er erhielt zahlreiche Kompositionsaufträge im In- und Ausland. Seine Werke wurden auf zahlreichen Festivals uraufgeführt und an allen inländischen und zahlreichen ausländischen Rundfunkanstalten produziert. 1994 erschien eine Portrait-CD bei WERGO.






WERKVERZEICHNIS



1976/77 Streichquartett
1978 Es war, als hätt' der Himmel die Erde still geküßt - Orgelphantasie
1979 Begegnungen mit einem ungewöhnlichen Solisten für Kontrabaß
1979/80 Es dauert nur noch einen kurzen Augenblick für Orgel und StimmeStyx für Flöte und Kammerorchester mit SchlagzeugFarben des Lichts für Orgel
1980 Zwiegespräch mit Alleluja für Orgel mit Tonband oder Chororgel oder Bläser Der Reiter auf dem weißen Pferd - Kantate für a-cappella-Chor mit Soli
1980/81 Momentaufnahmen - Fünf kurze Klavierstücke"...ausschnitt '80..." für Cembalo und kleines Orchester
1981 Begegnungen mit einem ungewöhnlichen Solisten - Version für zwei Kontrabässe"...ex-tem-sec-pus-tio..." für Klarinette, Violine, Cello und Klavier
1981/82 Streichquartett Nr. 2
1980/82 Der Turmbau zu Babel - Oratorium für drei Chöre, drei Orchestergruppen, drei Dirigenten, Soli, Life-Elektronik und Zuspielband nach Texten von Schiller, Schopenhauer, Nietzsche, MachiaveIli, Tucholski
1981/83 circulare ad infinitum. . ., in modo passacaglio für Trompete solo
1983 Der Turmbau zu Babel Suite für großes Orchester Mephisto klopft an für Bläserquintett (Flöte, Oboe, Klarinette, Horn, Fagott)spectaculum undique perpetuum... ? für Posaune soloKonzert für Violine, Streichquintett und großes Orchester
1984 ...aber es fehlt ihnen der Glaube für Orgel
1984/85 aber wehe euch Ihr Satten für OrgelFastengesänge für Chor, Sprecher und obligate OrgelAbend im Schatten für Kammerensemble mit neun Instrumentenhomage-hü-ho-marge-ha-ho-marché-á-homarsch-hm für Orgel
1985 von einem, der aufbrach... für Violine solo superverso per organo - Drei StudienKlavierstück IIStreichquartett Nr. 3aerophonie für Orgelpedal
1985/86 Zeitzeichen-Zeitmaße- Konzert für Klavier und großes Orchester Almería, tu tierra quemada - für drei Sänger/Sprecher/Schauspieler mit obligaten Schlagwerkinstrumenten Gethsemani für großes Orchester
1987 Klavierstück III "Passacaglia brevis
1987/88 "superverso per organo - Studien IV-VIDem Rad in die Speiche fallen für großes OrchesterZeitflucht für Kammerensemble
1988/89 Zirkulation für Kontrabaß und Orchester
1989 superverso VI für eine KleinorgelZeitwinde für Cello und Schlagzeugquartett
1989/90 Interferenza mente sovraposizione für Cello, Life-Elektronik und großes Orchesterle mystère trilogie unique eternelle pour grand orgueGlasperlenspiel für fünf oder zehn Laienspieler mit 25 bzw. 50 klingenden Gläsern
1990 Capriccio für Violoncello und großes Orchestersuperverso per organo - Studien VIII-XIIDurch die Erde geht ein Riß gegen das Vergessen - Sieben Stücke für großes Orchester
1990/91 La trinité unique éternelle de l'esprit, de la nature et de l'architecture pour violon, Viola, violoncelle et grand orchestre
1992 Dahingegangen für Kammerensemble
1992/93 Grenzrisse, Wege von Schreyahn zur Altmark für Harfe-SoloPanoptikum - Klangmobil für einen (schau-)spielenden Solisten (Sopransaxophon) und Tonband
1993 all Ding will haben ein End... - Schlußstück für KammerensembleECasPiSanKuDraR für AkkordeonDie Zeit, die ist ein sonderbar Ding für Oboe und Streichtrio
1993/94 Das erschwiegene Wort! ...ausgeweitet... für Schlagzeug und großes Orchester
1994 ut moriens viverent vixit moriturus - Klavierstück 4 Spurenelemente für Orgel und großes Orchester Klavierstück 5 "in Farben verschoben" Organum duplum variatio für Orgel und Tonband




Zu seinem Werk
"DEM RAD IN DIE SPEICHEN FALLEN..." Notate zum Schaffen von Ernst Helmuth Flammer In Heilbronn 1949 geboren, gehört Ernst Helmuth Flammer zu jener Komponistengeneration, der die Musik der 70er Jahre ebenso eigenwillige wie eindringliche und vielgestaltige Impulse verdankt: Peter Michael Hamel ('1947), Peter Ruzicka (1948), Manfred Trojahn ('1949), Walter Zimmermann ('1949), Anton Plate (`1950), Reinhard Febel ("1952) und Wolfgang Rihm ("1952). Was Flammer mit diesen Namen verbindet, ist das Bemühen, die kompositorischen Neuerungen nach 1950 kritisch zu reflektieren und zugleich schöpferisch weiterzuführen, das heißt: es geht weder um bedenkenlose Imitation serieller und postserieller Musik noch um eine radikale Absage an sie, sondern um die Initiation eines Musikdenkens, das sich der jüngsten Vergangenheit ebenso verpflichtet weiß, wie es für künftige Entwicklungen offen ist. Was Flammer in dieser Gruppe zu einer singulären Erscheinung macht, ist zum einen die relativ späte Entscheidung für den Beruf des Komponisten, als der er sich 1977 mit dem ersten Streichquartett vorstellte, und es ist zum anderen die Entschiedenheit, mit der er seinen kompositorischen Standort seit jeher definiert. Dieser Standort läßt sich im Begriff des Engagements fassen, das in zweifacher Weise ?als artifizielles und als existentielles ?Flammers Denken und Schaffen grundiert. Damit sind gleichermaßen die Brennpunkte einer Ellipse benannt, auf der die nunmehr etwa 50 Werktitel mit immer wechselnder Akzentutierung auszumachen sind. Artifizielles Angagement meint den hohen Anspruch des Komponisten an sich selbst, aber auch an Interpreten und Hörer. Existentielles Engagement meint den Einspruch gegen die inhumanen Tendenzen unserer Zeit, seien sie nun im politischen und gesellschaftlichen Raum oder in den verkürzten Perspektiven von Wissenschaft und Technologie zu suchen. Werke wie diese signalisieren solchen Einspruch bereits mit ihrem Titel:... aber weh euch, ihr Satten für Orgel (1984/85); Dem Rad in die Speichen fallen für großes Orchester (1987/88); Durch die Erde geht ein Riß gegen das Vergessen, Sieben Stücke für großes Orchester (1990). Den Dingen nicht einfach ihren Lauf lassen, sondern Anstoß nehmen am Unrecht und an der Gedankenlosigkeit in unserer Zeit und damit selbst anstößig werden. ? das ist ein wesentlicher Aspekt von Flammers Ästhetik. Es berührt den zweiten zentralen Aspekt dieses Standarts, daß diese Botschaft nie mit programmatischer Aufdringlichkeit vermittelt wird, daß sie vielmehr gerade aus seiner subtil ausgeformten und komplex erfundenen Musik von höchstem Kunstanspruch ihre Eindringlichkeit bezieht.

Zwischen der Komplexität seiner Werke ?sie ist eine Art Wasserzeichen aller Kompositionen von Ernst Helmuth Flammer ?und einigen biographischen Daten läßt sich ein Zusammenhang vermuten. Dazu gehört das dem eigentlichen Kompositionsunterricht bei Klaus Huber, Brian Ferneyhough und Paul Heinz Dittrich vorgelagerte Studium der Mathematik und Physik ebenso wie die mit einer Arbeit über Hans Werner Henze und Luigi Nono bei Hans Heinrich Eggebrecht absolvierte Promotion zum Dr. phil., aber auch die von Flammer immer wieder apostrophierte innere Nähe zur Raumkunst, zur Architektur, wie auch seine beständige Reflexion der Musik als Zeitkunst, wobei geschichtsphilosophische, theologische und anthropologische Dimensionen immer mitgedacht werden. Zeitflucht für Kammerensemble (1987/88) und Zeitwinde für Violoncello und Schlagzeugquartett (1989) thematisieren das Phänomen Zeit, mit dem das Quartett ...ex?tem?sec?pustio" für Klarinette, Violine, Violoncello und Klavier (1981) ein so überaus reizvolles Spiel treibt. Flammers Kompositionen sind insgesamt Zeit?Spiele, vom faszinierenden Spiel mit dem Zeiterleben des Hörers bis zur Anspielung auf das Zeitende, auf die Apokalypse (Gethsemani für großes Orchester, 1985/86). Flammers Werke sind zugleich hörsame Musik, sind Hör?Spiele, in die und auf die unser waches Ohr sich auch ohne tiefere Kenntnis der strukturellen Zusammenhänge mit Gewinn einlassen kann. Seine Tonsprache hat sich über alle reflexiven Anteile hinweg jene Unmittelbarkeit erhalten, die der Neuen Musik nur allzu gern abgesprochen wird, und so gewahren wir durch alle Sinnfülle im Intentionalen hindurch eine Sinnlichkeit des Klangs, die das Hören auch dort noch zur Lust werden läßt, wo Musik uns an Abgründe führt und sagt: Schau! ? in Gethsemani zum Beispiel.

Nicht zuletzt auf solcher Unmittelbarkeit gründet die starke Resonanz von Flammers Musik bei den renommierten Festivals Neuer Musik, eine Resonanz, die seit 1979 in einer Vielzahl von Preisen, Stipendien und ehrenvollen Aufträgen einen bemerkenswerten Niederschlag gefunden hat. Ernst Helmuth Flammer lebt seit 1980 als freischaffender Komponist in Freiburg. Gleichwohl belegt sein stattliches Schriftenverzeichnis ebenso wie seine umfangreiche Lehrtätigkeit (u.a. als Gastdozent an der University of Newcastle, in Dresden und Gera, am Salzburger Mozarteum und bei den Darmstädter Ferienkursen), daß der Unmittelbarkeit dieses kompositorischen Schaffens der Drang zur Vermittlung von Musik ? auch der Werke anderer Komponisten ? korrespondiert.

Im Konzert für Violine, Streichquartett und großes Orchester von 1983/84 treffen die wesentlichen Aspekte von Flammers Musikdenken wie in einem Brennspiegel zusammen. Da ist zum einen die kritische Auseinandersetzung mit einer traditionsreichen wie auch belasteten Gattung, dem Solokonzert. Die Solovioline, durch ein Streichquartett zu einem überdimensionalen Streichinstrument erweitert, hat keine gegenüber den anderen Mitwirkenden hervorgehobene Funktion mehr, sondern eine eher integrative, und wie der Solist, so probt auch das Orchester den Rollenwechsel ? es tritt entschieden aus der Nische des Nur?Begleiters heraus. Die Kadenz, vormals bevorzugter Ort der Selbstdarstellung des Solisten, wird in ironischer Brechung von einem Zuspielband abgerufen, verzerrt, verfremdet, denaturiert. Flammer geht es nicht um die circensische Leistungsschau des Solisten, sondern um die kritische und selbstkritisc Zurücknahme des Individuums als Einspruch gegen das Zwanghafte einer z Gewohnheit verkommenen Institution.

Wie aber bei Flammer Kritik, Kreativität und Konstruktion nie zu trennen sind, präsentiert sich auch solcher Protest w derum in einer ästhetischen Gestalt, die schöpferische Perspektiven verweist. Da gehört vorab die Leitvorstellung ein Architektur der Zeit, das heißt einer Mus deren Grundriß von allgemeingültig Proportionsgesetzen ? dem Golden Schnitt, der Gauß'schen Kurve, der Fibonacci?Reihe ? bestimmt wird. Die großformale Disposition, die symmetris entworfenen Blöcke im Zentrum d Werkes, ja noch die Zusammensetzung der Tondauereinheiten ? alles ist einem Nomos unterstellt, der dem Komponisten Schi heit, Harmonie und Mannigfaltigkeit ne( Art verbürgt. Das Unhörbare, so könr man sagen, macht das Unerhörte die; Musik erst möglich. Hörsam indessen alles an diesem Werk, vom de?profunc Effekt der ersten Takte (Kontrafagott und tiefe Streicher) bis zu seiner Wiederkc gegen Schluß des Stückes, bevor sich das vollbesetzte Orchester mit einem Fort simo?Ausbruch im letzten Takt gegen solche Wiederkehr (des Immergleichen) zu stemmen scheint und ? mit einem Werktitel Flammers zu reden ? dem Rad in die Speichen fällt.
Damit ist die innere Dramaturgie der Komposition angesprochen, die, erklärtermaßen als absolute Musik konzipiert, glei chwohl narrative Momente enthält, die - im Goldenen Schnitt zum Beispiel ? "zählt" und die "erzählt", die in ihren von großem Ordnungssinn entworfenen Schichten dem spekulativen Ohr eine Geschichte freigibt. Es ist die Geschichte vom Werden, Standhalten und Scheitern musikalischer Gestalten, die in den ersten Minuten jenen imaginären Raum erfüllen und beleben, in dem sich, vom Zentrum aus ausgehend, die Umrisse des Soloviolinparts entfalten. Dieser Part, Vexierbild einer unendlichen Melodie, gerät zunehmend in das aggressive Umfeld von Blechbläser?Attacken, bis Röhrenglocken und Tamtams - funebrales und makabres Klangsymbol dei Berlioz und Mahler, Berg und Boulez ? an das nahende Ende gemahnen. Was sich in den folgen den 35 Minuten ereignet, ist von diesem Ende her zu begreifen: als Aufbäumen des kompositorischen Subjekts in großen dynamischen Schüben, aber auch als Ermatten aller Kraft zum Wiederstand; als Gewalt der Musik in den Fenstern aus Klang (etwa der 4 Flöten allein oder des Zusammentreffens von Solovioline, Streichquartett, Harfe und Celesta), die sich weithin zu öffnen scheinen, aber auch als Musik der Gewalt, die sich im dichten Blechwall der Posaunen und Tuben aufbaut; als hymnisch gestimmter Hörnerklang, aber auch als martialisches Auftrumpfen des bedrohlich skandierenden Schlagwerks; als schmerzhafte Risse, die Rassel und Ratsche in den dichtgewebten Streicherflor prägen, aber auch als fernes Zeichen von Hoffnung, das mit einem Trompetensignal vorüberweht; als Kantables (in den "cantabile" und "espressivo" solistisch geführten Passagen im Englischhorn und im Violoncello), aber auch als Kantiges (in den zahlreichen schreckhaften Interjektionen des vollen Orchesters). Mit der Erfahrung dieses "aber auch" sind wir ganz im Zentrum von Flammers Musik, die wie Satz und GegenSatz auf den Hörer eindringt. Nicht um ihn zu betäuben, sondern um die Szenerie zu erhellen, in der sich wohl nicht erst heute abspielt, was wir Leben nennen: ein Ort der Gefährdung wie der Hoffnung auf Rettung; ein Ort des Scheiterns wie des Gelingens. Musik, die uns solche Erfahrung vermittelt, nimmt uns in die Pflicht und sie macht uns zugleich frei. Verpflichtend ist, daß sie ? wie alle große Kunst ? so viel Licht wirft auf das, was ist, daß wir nicht mehr sagen können, wir sähen nichts. Frei sind wir darin, unseren eigenen Standort in dieser Szenerie zu wählen oder neu zu bestimmen und dabei ? womöglich ? den Trost der Musik anzunehmen oder uns zu verweigern.

Volker Blumenthaler hat Flammers Konzert einen Brocken mit der nekrologen Wucht einer Tempelruine genannt. Flammers Oeuvre enthält eine ganze Reihe solcher Brocken, aber es kennt auch die lichten Gegenbilder. Es sind Stücke von frappierender Kürze, gedanklicher Verdichtung und erfinderischem Witz, von großem Reiz der instrumentalen Farben und ? bei äußerster Verknappung der Form ? von unerhörtem Reichtum des Ausdrucks. So steht neben dem Monumentalen die Miniatur, die Momentform, der sich Flammer in der Phase um 1980 besonders widmete. In dieser Zeit entstanden die 5 Klavierstücke Momentaufnahmen, ausschnitte `80... für Cembalo und kleines Orchester, "...ex?tem?sec?pus?tio..." (24 Momente für Klarinette, Violine, Violoncello und Klavier) und das ebenfalls aus 24 Momenten bestehende z. Streichquartett. Gemeinsam ist allen vier Werken dieses Zyklus die Reflexion von Zeit und Ewigkeit. Als exsectio temporis Ausschnitte) der Zeit; aus sprachmusikalischen Gründen hat der Komponist den korrekten Genitiv durch den Nominativ tempus ersetzt) kündigt sich solche Reflexion bereits im Titel des Quartetts von 1981 an. Zur Permutation der Silbenfolge, die das kompositorische Konzept abbildet, sagt Ernst Helmuth Flammer: Die scheinbare Zufälligkeit der Abfolge von Ereignissen in der Welt, die doch einer für den Einzelnen undurchschaubaren Ordnung gehorcht, ließ mich den Titel in austauschbare Silben aufspalten. Symbol dafür, daß der Mensch als einzelner austauschbar ist in unserer Lebenswelt, aber: die Rolle, die er im großen Getriebe zu spielen hat, steht fest. In seiner äußersten Kompliziertheit und Konzentration steht das Werk der Kompositionsästhetik von Brian Ferneyhough (*1943) nahe; ihm hat Ernst Helmuth Flammer das Quartett gewidmet. Mit seinen 24 Momenten fängt es gleichsam stellvertretend für die 24 Stunden des Tages das menschliche Leben ein, wobei die unterschiedlichen Dauern der einzelnen Momente ? Nr, 14 ist mit 2 1 /2 Sekunden der kürzeste, Nr. 20 mit 55 Sekunden der Längste ? die Analogisierung eher stützen als widerlegen. Denn wie jedem der Momente eine eigene Zeit zukommt, so machen wir auch mit den 24 Stunden des Tages ganz unterschiedliche Zeiterfahrungen: wir kennen kurze und lange Stunden, tiefe und flache, Stunden der Fülle und Stunden der Leere.

Flammer hat die Dauern der Momente, aber auch die Pausen zwischen ihnen strukturell und formbildend eingesetzt. So gibt es insgesamt sieben Fermatenzeichen mit unterschiedlicher Dauer (2 Sekunden bis 30 Sekunden), die die einzelnen Momente gleichsam durch auskomponierte Stille voneinander abgrenzen. Es ist wichtig, sich beim Hören auf diese Phasen der Stille einzurichten. Sie sind Orte der Erinnerung an Verklungenes oder der Vorahnung auf das Kommende, auf jeden Fall aber mehr und anderes als bloße Zäsuren. Pausen trennen, die Zonen des Schweigens bei Flammer verbinden, ja sie sind selbst Bestandteil der Musik, wie ein Rahmen zum Bild gehört. Überhaupt: die Vorstellung, vor einer Sequenz von 24 gerahmten Zeichnungen unterschiedlicher Größe zu stehen, mag hilfreich sein. Auch den Miniaturen Flammers stehen wir gegenüber, wir werden nicht in die Musik hineingezogen wie vom Violinkonzert oder beim Hören von Gethsemani. Die Anziehungskraft der 24 Momente verdankt sich weniger einem existentiellen als einem artifiziellen Engagement des Komponisten. Wir finden Spuren solchen Engagements in strukturellen Details, in formalen Zusammenhängen und nicht zuletzt im schier unerschöpflichen Reichtum an Ausdruckvaleurs, die sozusagen sinnenfrohe Nebenfrucht des kompositorischen Kalküls. Wohlkalkuliert ist der übersichtliche Bestand an strukturbildenden Patterns, die, in den ersten "Momenten" exponiert, den Zyklus durchziehen: ein arpeggierter Klavierakkord; ein triolisches Dreitonmotiv; ein dynamisch vielfach nuancierter Triller im Klavier; eine sich beschleunigende oder sich verlangsamende Gruppe von repetierten Tönen. Ein Pattern eigener Art ist die mit den ersten der Momente gesetzte Belebung des Einzeltons durch Artikulation und Dynamik, die Lust am Detail. Aus all dem resultiert die Webernnähe des Quartetts. Im Wechsel von streng seriellen Partien mit quasi?seriellen Passagen huschen die Miniaturen an unserem Ohr vorüber, das ? mit Pierre Boulez zu reden ?schon ein wenig blinzeln muß, um von der Helle solcher kristallinen Erscheinungen nicht geblendet zu werden. Nach drei, vier Momenten spüren wir sehr wohl, daß ein guter Sinn der langbemessenen Stille, der Zwischen?Zeit, darin liegt, daß nämlich in uns nachklingen oder wie in einer Dunkelkammer sich entwickeln kann, was unser Ohr als Momentaufnahme eingefangen hat. Die Ordnung im Kleinen hat ihre Entsprechung im großformalen Ablauf, der von der Besetzung her auf eine Mittelachse (Nr. 12: Violine solo) ausgerichtet ist. Die 14 Momente, an denen alle vier Instrumente beteiligt sind, werden fast symmetrisch um zwei Trio? (Nr. 11 + 16), zwei Duo? (Nr.7 + 22) und sechs Solo?Sätze (Nr. 3, 9, 12, 17, 20 +23) gruppiert. Dennoch hat jedes dieser kurzen Stücke sein durch Artikulation und Klangfarbe, Dauer und Dynamik, Tempo und Tonfall ganz individuell geprägtes Profil, das sich ebenso auf eine vorgegebene Ordnung bezieht, vie es sich jeder Unterordnung zu entziehen weiß. Homo ludens und Ecce homo!, artifizielles und existentielles Engagement ? beides artikuliert sich in Flammers Schaffen, exemplarisch verdichtet in "...ex?tem?sec?pus?tio.." und im fünf Jahre später entstandenen Gethsemani ? Vor dem Verschwinden und Vergessenwerden für großes Orchester. Der Titel verweist auf den historischen Ort, mit dem wir Abschiednehmen und beginnende Passion verbinden. Im Untertitel wird die Perspektive in unsere Gegenwart hineingezogen, die, anders als der zum Leiden bereite Gottessohn, vom guten Ende nichts mehr weiß. Vor dem Verschwinden und Vergessenwerden meint das Leiden der Vielen und die Schuld aller, die davon wissen, ohne mitzuleiden und ? was noch das wenigste wäre ? den vor Leiden Stummen ihre Stimme, ihren Schrei zu geben. In Gethsemani macht sich die Musik zu unserem Stellvertreter, schreit ihr vielfaches Eli, Eli,lamah asabthani gegen die Mauern des Unrechts und des Schweigens, scheitert im Ausbruchsversuch und droht schließlich selbst zu zerbrechen. Gethsemani partizipiert nicht am verklärenden E?Dur?Schluß in Pendereckis Lukas?Passion, antizipiert keine Versöhnung im musikalischen Material. Die Intention heißt Verklarung, nicht anders als in Helmut Lachenmanns Les Consolations, und das heißt den Blick unerbitterlich auf das lenken, was ist. Daß sie selber noch nicht verstummt ist, daß sie zwar nicht mehr singen, wohl aber mit letzter Kraft noch schreien kann, ist der Rest von Hoffnung, den sie transportiert, ihre einzige frohe Botschaft. Diese Botschaft zieht sich vom dissonanten ff?AngangsAkkord des Klaviers (d?fis?ais?cisl?gl?c2) durch alle fünf Teile der Komposition bis zu den schrillen ffff?Schlußtakten des vollen Orchesters. Die beiden Interludien (Teil II und Teil IV) scheinen die Erinnerung Wachhalten zu wollen an eine Schönheit, die uns nicht mehr gehört, und an Zeiten, als das Wünschen noch geholfen hat. Gedämpfte Streicher, umtupft von zarten Bongo-Akzenten und von glissandierenden Pauken sanft gestützt, geben dem II. Teil ein fast stimmungsvolles Gepräge, in das sich der Klavierpart wie von außen kommend einfädelt. Das Nebeneinander in "espressivo" geführtem Cello und einer Pauken?Attacke zeigt auf Risse in diesem Gewebe, unter dem sich ? wie der III. Teil erweist ? Bedrohliches zusammenbraut, das zum Ausbruch drängt. Solchermaßen enttäuscht und gewarnt, traut der Hörer den Kantilenen im kunstvoll gewirkten Klangteppich des IV. Teils erst gar nicht ? er erwartet das Ärgste, und das bleibt nicht aus. Wie ein ferner Reflex auf den 22.Psalm, der auch in die Leidensgeschichte Eingang gefunden hat, erscheint eine wie in Fetzen gerissene Melodie in Flöten, Violinen, Celli und in der I. Trompete. Die bemerkenswert vielen und langen Fermatenpausen dieses Teils vermitteln nicht den Eindruck von Stille und Ruhe, sie sind vielmehr Ausdruck einer angespannt lauernden Gegen?Musik, die, denaturiert und verfremdet, den Schlußteil des Werkes zu einem einzigen Störfall machen soll. Schweigt das Klavier im zweiten Interiudi um ganz und gar, so kommt nun seinen exzessiven Figurationen und dem bedrohlichen Effekt, den der Pianist mit Metall Schlägeln auf tiefen Saiten erzeugt, zentrale Bedeutung zu. Der letzte Klavierakkord des V. Teils (B?es?a?cis?g l?c2) ist eine Variante des ersten Klangereignisses von Gethsemani. Die abschließenden Schläge der großen Trommel ("hart und trocken') und der sie überwölbende Klangturm aus glissandierendem Blech, dissonierendem Holz und ffff auffahrenden Streichern läßt die voreilige Hoffnung, solche Variante könnte eine Veränderung zum Besseren anzc gen, zunichte werden. Was da zu verändern wäre, sagt Flammers Musik im I. Teil genau, wenn die Holzbläser ("hauchen") und Streicher (pizz., gliss., flag. oder "so kräftig als möglich Bogen drücken") auf ihren uneigentlichen Klang reduziert, das heißt sich ihrer selbst entfremdet werden. Eruptionen in den Blechbläsern, Kettenklirren und das Geräusch von Stahlkugeln, die in einen Eimer geworfen und geschüttelt werden, das perforierte Signal einer Militärtrommel, die schweren Farben der Tamtam?Schläge ?mit diesem klanglichen Inventar erbaut Flammer ein Szenario des Leidens wie der Schutzlosigkeit. Musik, die "ich" sagen kann, ihr "eigentlicher" Klang, der beseelte Ton, die zarte Geste, die individuelle Gestallt ? alles das ist ohne Chance und wird wie jene fein eingefädelten ersten Triangelschläge erstickt, verdrängt vom dumpfen Vorwärtsdrall, der ohne Richtung bleibt.
Nach dem ersten Interludium spielen die Streicher noch geräuschhafter (Bogen über dem Steg; col legno battuto u.a.), der Klavierklang rückt in die kühle Distanz des "martellato", die Blechbläser ertönen "sehr emphatisch" und "röcheln". Marimba und Kürbisraspel sekundieren mit unerwarteten Akzenten dem Kettengeklirr und dem harten Klappen der Stahlkugeln im Eimer, das wie ein Kinderspiel anmutet und gleichwohl die entscheidende und knappe Botschaft dieses Satzes so nachdrücklich zu unterstreichen vermag: es steht alles, aber auch alles auf dem Spiel. Mit dieser Botschaft entläßt uns die Musik in das zweite Interludium und in die Turbulenzen des Schlußteils, der uns allerdings das Ende der Geschichte vorenthält, von dem Gethsemani erzählt. Flammers Musik schließt mit einem Schrei. Wer ihn als Schrei wahrnimmt ? und nicht nur als schmerzhafte Klangballung registriert ? der wird auch anders und anderes sehen als bisher, und er wird den Gedanken nicht mehr Ioswerden können, daß das, was ist, veränderbar ist. Gethsemani will diese Erfahrung zum Appel werden lassen, nicht mehr, nicht weniger. Das impliziert ein grenzenloses Vertrauen des Komponisten in die verwandelnde Kraft der Musik, für die wir große Beispiele kennen. Eines von ihnen beschwört unbewußt die letzte Eintragung am Schluß der Partitur. Sie gilt dem Datum der Vollendung von Gethsemani. Flammer hat die Arbeit am 27. Januar 1986 abgeschlossen, an Mozarts Geburtstag.

Peter Becker

Zum Lebenslauf Auftragskompositionen