Werkbetrachtungen

Auftragskompositionen

english version
versione italiana

 

Violeta Dinescu

Saiten

Notenbeispiel


Saiten, nach dem gleichnamigen Gedicht von James Joyce ist gleichzeitig Kommentar und Spiegelung des Textes. Die Stimme ist wie ein Instrument, das in Verbindung mit den anderen Klangfarben ständig den eigenen Klangcharakter verwandelt.

Saiten
Saiten im Feld, in den Höhn
Rührt der Lüfte Kuß,
Saiten mit süßem Getön
Im Weidicht am Fluß.

Liebe wandert am Wasser
Spielend wunderbar,
Blasse Blumen auf ihrem Mantel,
Dunkles Laub im Haar.

Ihre Scheitel im Schreiten
Neigt die Träumerin,
Ihre Finger gleiten
über die Laute hin.

                              (James Joyce)

Violeta Dinescu
 


Zu den Werken


Suita (1973) und Con Variazioni (1974) sind zwei Kompositionen, die noch aus Violeta Dinescus Studienzeit stammen. Im Gegensatz zu ihrer späteren Klaviermusik handelt es sich um vergleichsweise traditionelle Werke, die sich an George Enescu und Bela Bartók anlehnen. Beide Kompositionen sind noch nicht in dem später so charakteristischen freirhythmischen Stil geschrieben, wenngleich die Melodie bereits vom Parlando?Rubato inspiriert ist.

SUITA (1973) besteht aus drei Sätzen. Der erste Satz, Akanua, basiert auf einer Intervallkonstellation, die durch Rotation Wiederholungen ermöglicht, wobei neues Material entsteht. Die rhythmischen Motive pendeln zwischen asymmetrischen Pulsationen und fließenden Bewegungen und erlauben eine flexible Gestaltung. Der frei erfundene Titel Akanua soll Assoziationen an ein imaginäres archaisches Ritual wecken. Der zweite Satz, Lento, bedeutet einen kontemplativen Ruhepunkt, bevor der letzte Satz, Allegro, ein Perpetuum Mobile mit symmetrischen und asymmetrischen Rhythmen ausbildet.


TORRE DI SI (1994) ist aus Anlaß einer offiziellen Geburtstagsfeier entstanden. Obwohl der Tonvorrat des Stücks einen symbolischen Bezug auf dem Namen des Gefeierten besitzt, ist das Werk gleichzeitig auch eine allgemeine Hommage. Torre di Si meint das "Tor des H" ? eine Tonhöhe, die beim Hören labile, unsichere Klangorte assoziieren soll. Diese äußern sich in quasi impressionistischen Umspielungen der Note H, in gespiegelten Klangräumen um einen Ton herum oder auch in Klangveränderungen mit dramatischem Innenleben.


ECHOS I und II (1980) sind die ersten beiden Stücke eines dreiteiligen Zyklus, dessen Abschnitte jeweils auf einer ausgewählten festen Zahl beruhen. Violeta Dinescu übersetzt sie in Intervalle, Bewegungsrichtungen und Proportionen. Dabei versucht die Musik, die Strenge der Sequenz zu durchbrechen, wofür die Komponistin auf eine Art selbst entworfenen Modus zurückgreift. Die Töne dieses Modus kehren wieder und funktionieren wie ein Uhrwerk. Jedes der drei Echoes hat kurz vor dem Schluß eine Phase, in der die Modus?Elemente deutlich in den Vordergrund treten.

ECHOS II wurde ursprünglich für Klavier und Schlagzeug komponiert, wobei der Pianist gleichzeitig auch die ihn umgebenden Perkussionsinstrumente spielen soll. Das Schlagzeug ist dabei als eine Erweiterung des Klavierklangs anzusehen und interpretiert ebenfalls die Idee der Uhren.


CON VARIAZIONI (1974) umfaßt drei Unterzyklen, die jeweils aus einem Thema und einer Reihe von Variationen bestehen. Bereits die Themen sind variativ auseinander entwickelt, wobei die Konturen des ersten und dritten einander am stärksten ähneln. Das Thema des ersten Variationszyklus wird jedoch zunächst homophon, das dritte sofort kanonisch dargestellt. Das Thema des zweiten Zyklus bringt dagegen durch seinen größeren Dissonanzgrad und seinen unruhigeren Charakter einen Kontrast. Bei der Ausarbeitung der Variationen stehen rumänische Folklore und postmoderne Elemente gleichberechtigt nebeneinander.

DIES DIEM DOCET (1987) bedeutet "Ein Tag belehrt den anderen". Dieses Klavierwerk enthält einen komponierten Kommentar zu den "Années de pelerinages IM von Franz Liszt und hieraus besonders aus "Les jeux d'eau de Villa d'Este". Auf verschiedenen Ebenen werden musikalische Strukturen oder thematische Elemente miteinander verknüpft und kontinuierlich neu komponiert und verwandelt. So entsteht eine imaginäre Reise in die Geschichte der Musik. Ein komplexes Netz von Erinnerungen, Einflüssen, Echos, Widerständen, Umwegen, Labyrinthen und Träumen tut sich auf. Es gibt Veränderungen der Proportionen und Spiegelungen des gesamten Materials, so daß das neue Klavierwerk selbst eine "Wallfahrt" wird ? eine Wallfahrt zu Liszts "Années de pélérinages". Die Komponistin bezeichnet dies als "eine Wanderung durch einen imaginären Garten voller asymmetrisch deformierender Spiegel". Wie die Komposition von Liszt ist auch "Dies Diem Docet" eine sehr virtuose Komposition.